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Zürcher Kammerorchester, Tabula Rasa — Daniel Hope und Sebastian Bohren, Tonhalle Zürich, 25. April 2023, besucht von Léonard Wüst

Zürcher Kammerorchester Foto Harald Hoffmann

Besetzung und Programm:
Zürcher Kammerorchester
Daniel Hope Leitung und Violine
Sebastian Bohren Violine
Wolfgang Amadeus Mozart Adagio und Fuge c-Moll, KV 546
Arvo Pärt Tabula rasa
Alfred Schnittke Concerto grosso Nr. 3 für zwei Violinen, Streichorchester, Cembalo, Klavier und Celesta
Martin Wettstein The Temple of Silence. Konzert für zwei Violinen und Streichorchester (Uraufführung)
Edvard Grieg Aus Holbergs Zeit. Suite im alten Stil, op. 40

Begrüsst wurden wir durch die kaufmännische Leiterin des ZKO, Helene Eller, die einen gerafften Überblick über den aktuellen Konzertplan des Orchesters gab, etwas Rück – und auch Ausblick und dann das Wort an ihre Kollegin, der künstlerischen Leiterin, Lena – Catharina Schneider übergab, die ein paar kurze Erläuterungen zu den Werken dieses Konzertabends gab.

Wolfgang Amadeus Mozart Adagio und Fuge c-Moll, KV 546

Ein typischer Mozart dieses musikalische «Amuse d’oreille». Die Kopplung eines freien, expressiven Adagios mit einer Fuge für Streicher war in der Berliner Schule weit verbreitet, also nicht etwa aus der Wiener Klassik erwachsen, wobei Kaiser Joseph II. dieses Genre sehr schätze und Mozart ihm wahrscheinlich bedeuten wollte, dass er das Komponieren einer Fuge zumindest ebenso gut beherrschte wie  des Kaisers Hofkomponisten Albrechtsberger und Salieri, die darauf spezialisiert waren.

Schon in dieser Fuge spiegelt sich Mozarts Kühnheit

Daniel Hope Violine und Leitung Foto Ansgar Klostermann

Schon jenes „kurze Adagio“ ist Mozart kühn genug geraten, trotz der äußerlich „barocken“ Gestalt mit punktierten Rhythmen und pathetischen Gebärden. Im Detail herrscht hier jene radikale Konsequenz der Stimmführung, wie er sie in den Jahren 1787/88 entwickelte. Dazu passt wiederum kongenial die Fuge, ein Extrem an Chromatik, wie es selbst Mozart kein zweites Mal geschrieben hat, im Übrigen die einzige vollendete der vielen Klavierfugen, die er 1782/83 studienhalber für den Baron van Swieten begonnen hatte.

Die Damen, hauptsächlich rot gekleidet und die Herren des Orchesters im gewohnten Schwarz, starteten beschwingt, sicht – und hörbar, voll motoviert in den Konzertabend, von Chef Daniel Hope souverän durch die Partitur geführt.

Nach dem langenanhaltenden Applaus richtete auch Daniel Hope ein paar Worte an die Besucher im praktisch ausverkauften grossen Tonhalle Saal.

Arvo Pärt “Tabula rasa”

«Tabula Rasa“ ein Geniestreich, eine Wegmarke der zeitgenössischen Moderne von Pärt. Nach einem achtjährigen Sabbatical, einer  Auszeit, die er dem Studium mittelalterlicher Musik, der Gregorianik und der Renaissance-Polyphonie widmet, findet er 1976 zum Komponieren zurück: Er hat die Lösung für sich selbst in einem gleichsam musikalischen „Zurück zur Natur“ gefunden, in einem Kloster komponiert.

Konzertfoto von Linda Schürmann ZKO

Synchrones Intro der beiden Violinen bevor sich leise die anderen Streicher dazu schleichen, aber gleich wieder, diesmal abwechselnd von den beiden Violinen «überflogen» werden, alles in eher düsteren, nachdenklichen Notenbögen, fein austariert durch Sebastian Bohren und Daniel Hope und irgendwie fast bestaunt durch ihre Mitmusiker*innen, die je nach dem, auch ins Geschehen eingreifen. Etwa nach der Hälfte der Komposition, hat Arvo Pärt eine längere Orchestersequenz eingefügt, bevor wieder die beiden Solisten in den Vordergrund treten.

Laute Glocke erinnert an die Stille

Das Tintinnabulum links aussen kam heute Abend zum Erklingen bei Pärts tabula rasa

Die zwischendurch immer mal ertönenden Schläge auf dem «Tintinnabulum», einer Art Stangenglocke, erinnert an die Glockenschläge während des Komponisten Aufenthalt im Kloster. Das mit einem roten Filzhammer geschlagene Röhrenglockenspiel setzte dazwischen immer wieder markante Akzente

Gegen Ende eine eigentliches «fade out» das man sonst nur in der Popmusik kennt, in diesem Fall ein zunehmend sanftes Ausstreichen der Töne durch das Cello ins Nirgendwo, bei Pärt wohl in die Stille des Klosters, seinem selbstgewählten temporären Exil.

Das Auditorium zeigte sich tief bewegt ob der hingebungsvollen Interpretation durch die Protagonistinnen und geizte nicht mit dementsprechendem Applaus.

Stilbildend auch für andere Musikgenres

Konzertfoto von Linda Schürmann ZKO

Welche Bedeutung andere Musiker dem Werk beimessen belegt u.a. die Tatsache, dass einer der bekanntesten Jazzpianisten unserer Zeit, Keith Jarrett, das Werk zusammen mit dem Staatsorchester Stuttgart, den 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker, dem Lithuanian Chamber Orchestra und Violinist Gidon Kremer auf CD verewigte.

 

Alfred Schnittke Concerto grosso Nr. 3 für zwei Violinen, Streichorchester, Cembalo, Klavier und Celesta

Der 1934 geborene russisch/deutsche Komponist Alfred Schnittke, der in den 50er Jahren am Moskauer Konservatorium studierte und später dort auch unterrichtete, hatte in der damaligen Sowjetunion einen schweren Stand als Komponist und gewann seine Popularität zunächst im Westen, etwa mit den Aufführungen seines 1. “Concerto Grosso” für zwei Violinen, Cembalo, Präpariertes Klavier und Streicher, das 1977 entstand. Zwei Jahre später komponierte er sein Konzert für Klavier und Streicher.

Alfred Schnittkes Komposition Concerto grosso Nr. 3 ist im besten Sinne extrem gespenstisch. Introvertiert und in gleichem Maße explosiv erscheint dieses, da ohne eigentliche Satzbezeichnung,  einsätzige Sonate, deren innere Struktur nur noch die morschen Überreste der Sonatensatzform bestimmt. Dissonante Schock-Stöße beenden erstickende Kantilenen und beschwören einen nervösen Totentanz herauf, während eisige Tremolo-Splitter des Klaviers in einen voll-pedalisierten Malstrom stürzen. Zuletzt durchschießt der schicksalshafte Akkord, der das Stück immer wieder heimsucht, aggressiv das bittersüße Lamento.

Snittkes immense Mannigfaltigkeit

Konzertfoto von Linda Schürmann ZKO

Um diese Mannigfaltigkeit zu bannen, entwickelte Schnittke seine polystilistische Schreibart: ein Miteinander verschiedener Stilebenen ein parodistisch anmutendes Umspringen zwischen Nähe und Ferne, Höhe und Tiefe, Dichte und Auszehrung. All dem liegt die Vorstellung einer kreisenden Zeit zugrunde, die Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges verschmilzt.

Ich möchte erwähnen, dass alle Antiquitäten in meinen Stücken
von mir nicht gestohlen, sondern gefälscht wurden“, sagte Alfred Schnittke einmal. So zitierte er in diesem Werk einige grosse Komponisten die entweder im Geburts- oder im Todesjahr die Zahl 85 haben. Wie z.B. J.S. Bach, G.F. Händel, und Domenico Scariatti alle  geb. 1685, Alban Berg geb 1885, Gábor Darvas, Paul Creston und Reinhard Schwarz – Schilling, alle gest. 1985 usw.

Heinrich Schütz, porträtiert von Christoph Spätner, um 1660

Schnittke tat dies aus folgendem Grund: Es war die Auftragskomposition der damaligen DDR zur Feier des 300sten Geburtstag des Komponisten Heinrich Schütz. Der 1585 in Köstritz geboren wurde und 1672 in Dresden verstarb.

 

 

 

 

 

 

Konzertmeister Willi Zimmermann

Die Solisten und das Orchester spielten sich hervorragend durch die sehr anspruchsvolle Partitur, wobei Konzertmeister Willi Zimmermann sich ab und zu als Interimsdirigent betätigte.

 

 

 

 

Die Polistlistik als Markenzeichen

Schnittke selbst prägt für seine Kompositionstechnik den Begriff „Polystilistik“.
Aber das ist weit mehr als eine Technik oder ein Begriff: Es ist
ein ästhetisches Programm, ein ernsthafter Versuch, den Teufels-
kreis der nur noch sich selbst genügenden Avantgardemusik zu durchbrechen. „Die großen Figuren der Vergangenheit können nicht verschwinden … Ihre Schatten sind
lebensfähiger als das Pantheon-Gedränge von heute…“, hat Alfred Schnittke behauptet. Mit stilistischen Allusionen – hier im barocken Concertato-Stil – hat Alfred Schnittke einen Zusammenbruch der alten – oder vielleicht auch der aktuellen, weil im Museumsgefängniskasernierten Welt auskomponiert.

Der Ordnung halber hier doch noch die Auflistung der Sätze in dem eigentlich einsätzigen Werk

  1. Allegro
  2. Risoluto
  3. Pesante
  4. [Keine Tempovorgabe] (später als Adagio benannt)
  5. Moderato

Daniel Hope Violine und Leitung

In diesem Werk spielen der Cembalist, der Pianist und die beiden Geiger eine Doppelrolle, indem sie als Konzertsolisten wie auch »gruppenführend« auftreten. Das Concerto grosso  wirkt wie ein veritables Violinkonzert mit zwei zur Hochform auflaufenden brillanten Solisten. Die mal ein Duett spielten, sich darauf förmlich gegenseitig durch die Partitur jagten, sodass sich daraus plötzlich  ein veritables Duell entwickelte, schlicht atemberaubend.

Das sachkundige Auditorium wusste diese grossartige Performance mit den entsprechenden Applauskaskaden zu würdigen, bevor man sich in die Foyers zur Pause begab.

Martin Wettstein The Temple of Silence. Konzert für zwei Violinen und Streichorchester (Uraufführung)

Sebastian Bohren
Photo: Marco Borggreve

Auf dieses Auftragswerk des ZKO war das Auditorium natürlich besonders gespannt, zumal das «Tonhalle Publikum» doch eher als konservativ einzustufen ist.

Es waren dann teilweise auch sehr forsche Töne aber immer ausbalanciert mit feinzislierten Klangfinessen, mal furiose Tonexplosion, mal ganz fein ausgestrichen, progressiv und doch vertraut, erstaunlich, wie Wettstein variiert ohne den Zusammenhalt zu zerstören. .

 

 

Zur Entstehung des Werkes

Konzertfoto von Linda Schürmann ZKO

Eigentlich hätte er Sänger werden sollen. Herbert Crowley (1873–1937) verliess Lon-
don und begann in Paris bei einem berühmten italienischen Tenor zu studieren. Das
Lampenfieber machte den Traum zunichte, Crowley liess das Singen bleiben. Heute gilt Crowley als unverwechselbarer Zeichner
in den Anfängen des Comics, der ein Stern am New Yorker Kunsthimmel hätte werden können. 1913 war er mit zwei Bildern an der legendären Armory Show zusammen mit anderen europäischen Avantgardekünstlern vertreten. The Temple of Silence ist eine Kollektion streng symmetrischer Bilder von Tempelanlagen, eine Mischung aus Detailversessenheit und Mystik, die nach dem legendären Comic The Wigglemuch entstand. Sein Leben sei wie eine «lange dunkle Wolke, mit einem Lächeln zwischendrin», schrieb Crowley in sein Tagebuch in der
Zeit, als Carl Gustav Jung den Exzentriker in Küsnacht zu therapieren versuchte. Crowley hätte das Umfeld Jungs als «Psychosumpf» empfunden, sagt seine Nichte Susanna  Wettstein Scheidegger und  sie wiederum ist die Tante des Auftragskomponisten Martin Wettstein, der mit der Wiederentdeckung Crowleys im Jahr 2017dessen faszinierende Bildwelt kennenlernte. Die Spiegelsymmetrie ist ein zentrales Verfahren Crowleys und zeichnet auch The Temple of Silence aus. Wettstein greift in seinem gleichnamigen Konzert für zwei Violinen und Streichorchester dieses Verfahren verbindenden Faden zu zertrennen und lässt sich ausserdem von Arvo Pärts Tabula rasa und dessen Reduzierung auf wenige Mittel und ausgewogene Proportionen inspirieren. «Meine Musik soll Menschen von
heute berühren, gar begeistern», sagt Martin Wettstein, «und in ihnen selbst etwas in
Schwingung bringen.»

Konzertfoto von Linda Schürmann ZKO

Wettsteins Werk ist äusserst komplex, deshalb auch fast nicht möglich zu beschreiben, fehlen doch, natürlich bei einer Uraufführung, auch jegliche Vergleichsreferenzen, sei es in Form von Trailern oder Rezensionen, Kritiken  usw.

 

 

 

Dem aufmerksamen Publikum aber gefielen die aussergewöhnlichen Töne und es spendete denn auch einen langanhaltenden, stürmischen Beifall.

Martin Wettstein

Zum Schluss gesellte sich auch noch Komponist Martin Wettstein zu den Musiker*innen und durfte einen grossen Extraapplaus für sein Werk geniessen.

 

 

 

 

Edvard Grieg «Aus Holbergs Zeit» Suite im alten Stil, op. 40

Erstaunlich liebliche, fast zärtliche Klänge im zweiten Konzertteil, die man von Norwegern, die man sonst eher als unterkühlt, spröde wirkend wahrnimmt, nicht unbedingt erwartet.

Grundsätzliches zur Entstehung

Jede europäische Nation hat ihre Symbolgestalt für den Spätbarock. Für die Franzosen ist es das Louis Quinze, die Epoche Ludwigs XV., für die Portugiesen die große Zeit des König Joao V., für die Deutschen die Bachzeit und für die Engländer die Ära des Premierministers Horace Walpole. In Norwegen ist es der Dichter Ludvig Holberg, den die gesamte Nation mit jener Zeit identifiziert. Der große Sohn der Stadt Bergen wurde 1684 geboren, ein Jahr vor Bach und Händel, und drückte als Philosoph, Dichter und Humorist der Epoche seinen Stempel auf.

Hommage zum 200sten Geburtstag eines grossen Norwegers

Konzertfoto von Linda Schürmann ZKO

Als seine Heimatstadt 1884 seinen 200. Geburtstag feierlich beging, trug der damals berühmteste Bewohner Bergens, Edward Grieg, mit einer Kantate für Männerchor und einer Klaviersuite zum Gelingen des Jubiläums bei. Auf einer Reise nach Berlin instrumentierte Grieg die Klaviersuite Aus «Holbergs Zeit «für Streichorchester. Es wurde eines seiner bis heute populärsten Werke, das er gleichwohl nicht mochte. Dennoch gilt die Suite neben den Streicherserenaden von Dvorak und Tschaikowsky als das dritte große Werk der Spätromantik für Streichorchester.

Norwegen à la «française»

Was Grieg hier mit den Mitteln des romantischen Streicherklangs wiederbelebte, war die spätbarocke Orchestersuite mit ihren französischen Tanzformen. Er benutzte vier der beliebtesten Barocktänze, Sarabande, Gavotte, Musette und Rigaudon, denen er ein Präludium voranstellte und eine Air beigab.

Beim Präludium erinnern aufsteigende Skalen im punktierten Rhythmus an die französischen Ouvertüren des Barock. Darauf folgt als erster Tanz Satz die langsame Sarabande, die hier aller barocken Erdenschwere beraubt ist und träumerisch-süß daherkommt, besonders im Mittelteil mit seiner Bratschen-Melodie. Die Gavotte dagegen verwandelt den typischen Zwei-Viertel-Auftakt dieses Tanzes in geradezu unverschämt gute Laune, und auch die folgende Musette, ein Tanz, der dem Dudelsack seinen Namen verdankt, ist an rustikaler Eingängigkeit nicht zu übertreffen.

Genau diese unverschämt gute Laune wussten die Damen und Herren auf der Orchesterbühne vollumfänglich auf das Publikum zu übertragen

Als lyrischen Kontrapunkt ließ Grieg eine Air in g-Moll folgen, einen melancholischen Gesang, den er als “religiöses Andante”, sprich: als Gebet bezeichnete. Zweifellos dachte er dabei an die Air aus der 3. Orchestersuite von Bach, das auch heute noch berühmteste Beispiel einer barocken Air.

Den delikaten Schlusspunkt setzt ein Rigaudon, ein schneller Tanz mit charakteristischem Auftakt aus Viertel-Zwei-Halben. Unter Griegs Händen verwandelt sich dieser Rhythmus in ein duftiges Rondo zu Pizzicato-Begleitung mit sanftem g-Moll-Mittelteil.

Das Orchester lief zur Hochform auf, begeisterte, verbreitete Wohlgefallen  mit seinem freudvollen schwelgerischen Spiel.

Das Auditorium, begeistert vom grossartigen Spiel der Protagonist*innen, feierte diese mit einem langanhaltenden, nicht enden wollenden Schlussapplaus.

Dafür beschenkten uns die Zürcher noch mit einer rassigen Zugabe in Form des letzten Satzes «Alla Tarantella»: Prestissimo con fuoco von Erwin Schulhoff (1894-1942) aus fünf Stücke für Streichquartett (1923), die irgendwie Rimski Korsakows «Hummerflug» zitierte.

Die Proagonistinnen bedanken sich für den Applaus

Da auch hier der Applaus nicht enden wollte, bemerkte Daniel Hope, dass man uns hier behalten wolle und sie deshalb noch, mit dem Streichquartett a-Moll, ein äusserst anspruchsvolles Werk von Sir William Turner Walton spielen würden.

Fazit

Einmal mehr ein äusserst gelungener, beeindruckender Konzertabend beim ZKO in der grossartigen, von 2017 bis 2021 für ca. 175 Millionen Franken, total neurenovierten Tonhalle in Zürich.

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: www.zko.ch

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Tonhalle-Zürich-grosser-Konzertsaal vor dem Konzert

Sebastian Bohren und Daniel Hope engagiert auf der Bühne auf der ViolineFoto von Linda Schürmann ZKO

Daniel Hope inmitten seines Orchesters Foto Sandro Diener

Hochkonzentriert am zuhören

Konzertmeister Willi Zimmermann

Konzertfoto von Linda Schürmann ZKO

Die Proagonistinnen bedanken sich für den Applaus

Konzertfoto von Linda Schürmann ZKO

Die Proagonistinnen bedanken sich für den Applaus

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Unsere Reise – wohin? von Anna Rybinski

BB Our Journey Liza Voll Photography

Ballettabend mit Weltpremiere  der Boston Ballet Company am 6. April 2023Our journey  – Unter diesem Titel brachte das renommierte Boston Ballet seine neue Produktion heraus – eine seiner teuersten und aufwendigsten überhaupt.  Nicht nur das Ensemble von 69 Tänzern und das hauseigene Orchester waren im Einsatz, auch eine Multimedia Show mit Lichtregie, Soundtracks, Videokompositionen, und sogar ein Frauenchor trugen zum Gesamtergebnis bei. Mit diesem riesigen Apparat wollte Boston Ballet nicht nur Unterhaltung bieten: Brennende Umweltprobleme kamen auf und weckten düstere Vorahnungen. Ungewohnt von einer Ballettkompanie, die sich meistens der Schönheit und der märchenhaften Fantasiewelt verschreibt.

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Der Abend fing allerdings mit viel Lebensfreude an. Der erste Teil: Everywhere We Go, (Musik Sufjan Stevens, Choreografie Justin Peck) ist eine unterhaltsame, virtuose Parade in neun Szenen, die alle Register des weltberühmten Ensembles ziehen konnte. Die Musik wechselte zwischen romantischer Reminiszenz, jazzigen Einflüssen und Minimalismus: eine dankbare Partitur für abwechslungsreiche Szenen.  Die Trikots waren französisch angehaucht, und im Hintergrund wechselten sich ruhige Bilder von geometrischen Formen ab, die die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen nicht ablenkten.  Es war eine Augenweide.

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 Im zweiten Teil kam die mit Spannung erwartete Weltpremiere: die Choreografie von Nanine Linning zu Musik von Claude Debussy‘s La Mer. Der Komponist, der seine malenden Zeitgenossen, wie den französischen Monet, aber auch den Amerikaner Whistler und den Engländer Turner als Inspirationsquelle schätzte, konnte sich gar nicht darüber freuen, wenn man seine Musik impressionistisch nannte. Für uns unverständlich; wie könnte man seine schillernden, von Farben und Rhythmen vibrierenden Werke anders bezeichnen? „La Mer“ ist ein prächtiges Klanggemälde par excellence, mit allen möglichen Schattierungen der Orchestertöne ausgemalt – vom Meer inspiriert wie keine andere Komposition der Musikliteratur.Die drei Sätze wurden noch mit dem letzten Satz aus „Nocturnes“ (ebenfalls von Debussy) ergänzt: Die Sirenen. Die sinnvollste Ergänzung überhaupt, wenn es ums Meer geht! Die drei Sätze wurden noch mit dem letzten Satz aus „Nocturnes“ (ebenfalls von Debussy) ergänzt: Die Sirenen. So ergab sich in der Choreografie diese spezielle Reihenfolge:

    1. Von der Morgendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer
    1. Spiel der Wellen
    1. Die Sirenen (vom vorzüglichen Lorelei Ensemble gesungen)
    1. Dialog von Wind und Meer
BB Our Journey Liza Voll Photography

 Wir waren jedoch nicht gleich bei Debussy, als der zweite Teil anfing: Erst kamen allerlei Tiefseegeräusche und verlockende Sirenentöne. Boston Ballet wollte nämlich nach einer intensiven Zusammenarbeit mit der „Woods Hole Oceanographic Institution“ nicht nur die musikalischen und poetischen Aspekte der Meere vermitteln, sondern auch ihren Zustand und ihre Zukunft. Und die Letztere sieht ziemlich düster aus!  Der Komponist Yannis Kyriakides stellte zwischen die Debussy-Sätze eigene Sound-Kulissen als Verbindungelemente, die von verstörenden Tanzszenen begleitet wurden: Ausgerenkte Körperteile überall, gestrandete Fische, die verenden. Ölverschmierte Gestalten, kriechend, nach Luft ringend, die sich in die Fluten werfen, um die Sirenen zu erreichen.  Der Sirenengesang, die todbringende Verlockung der alten Griechen, ist in unseren Zeiten der Profit, der die Weltmeere verschmutzt, dem niemand widerstehen kann und wegen dem sich jeder freiwillig ins Verderben stürzt.  Während wir in himmlischer Musik schwelgten, erlitten die Fantasiefiguren Qualen und Tod.  Drastischer geht’s nicht!

BB Our Journey Liza Voll Photography

 Immersion ist das Modewort der Kulturszene. Das gewählte Thema von allen Seiten anzugehen, multikulturelle Erlebnisse zu bieten, ist fast Pflicht. BB hat es hierbei auf das höchste Niveau gebracht: Nicht nur unglaubliche, akrobatische Leistungen im Tanz, (es wäre unmöglich, alle Namen aufzuzählen!) aber auch atemberaubende, schwindelerregende Videoaufnahmen (Heleen Blanken), Lichtregie (zweimal Brandon Stirling Baker) und Kostüme in allen Meeres- und Hautfarben (Yuima Nakazato) bereicherten die Produktion.  Wir tauchten in eine bedrohliche Welt ein, mit allen Sinnen – aber es fiel uns schwer, soviel auf einmal aufzunehmen. Man hätte mehrmals hingehen müssen, um alles zu verstehen und zu verarbeiten. Sowohl mit Verstand als auch mit Emotionen.Das Boston Ballet Orchestra unter der Leitung von Mischa Santora brachte die schwierigen Partituren virtuos und farbenreich zum Gehör. Seine Musikerinnen und Musiker waren in den verschiedenen Musikstilen von Sufjan Stevens, und auch im impressionistischen Zauber von Claude Debussy ausgezeichnet.War es ein mutiger, ein wagemutiger Schritt vom Artistic Director Mikko Nissinen, diese Produktion zu ermöglichen? Er wollte mit Choreographin Nanine Linning den treuen Zuschauern, die klassisches Ballett lieben und unterstützen, nicht nur ausdrucksvollen Tanz, sondern auch den gefährlichen Zustand unserer Meere vor Augen führen. Das Bostoner Publikum ist sonst an Zeitgenössisches Ballett gewöhnt: Choreografien u.a. von William Forsythe, Jorma Elo, Jiří Kylián und John Cranco sind bei ihnen regelmässig im Programm und werden enthusiastisch aufgenommen. Our journey war jedoch mehr – es konfrontierte uns mit der bitteren Wahrheit in einem Kunsttempel, wohin wir eher aus den bitteren Wahrheiten des Lebens flüchten möchten. Ein Wegweiser in die Zukunft, dass wir uns nicht mehr hinter dem Begriff „Kunst“ verstecken können?

BB Our Journey Liza Voll Photography

Das prächtige 100-jährige Citizens Bank Opera House, wo keine Oper mehr gespielt wird, wo aber das Boston Ballet residieren kann, sucht seinesgleichen in den Staaten. Gebaut 1928, war es eines der zahllosen luxuriösen Vaudeville -Theaters, die damals im italienisch-französischen Stil entstanden. Die meisten wurden abgerissen, denn die Erneuerung erwies sich als zu kostspielig. Boston hat es dank grosszügiger Investoren geschafft, dieses Juwel mit einer umfangreichen Renovation im Jahr 2009 zu retten. Es ist der Stolz der Stadt. Hoffentlich bleibt es weiterhin erhalten – falls unsere Ozeane und mit ihnen auch wir überleben.Die „Woods Hole Oceanographic Institution“ strahlte in ihrer Schlussanalyse immerhin etwas Zuversicht aus. Vorausgesetzt, die Welt bessert sich. 

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Abdullah Ibrahim «Solo & Ekaya», KKL Luzern, 20. April 2023, besucht von Léonard Wüst

Abdullah Ibrahim Altmeister am Klavier
Abdullah Ibrahim Altmeister am Klavier

Besetzung:
Abdullah Ibrahim, piano – Cleave Guyton, alto sax/flute/clarinet/piccolo (musical director) – Lance Bryant, tenor sax – Michael Pallas, trombone – Joshua Lee, baritone sax – Noah Jackson, bass/cello – Willie Terrill, drums

Grundsätzliches zu Abdullah Ibrahim

Abdullah Ibrahim playing the Blues
Abdullah Ibrahim playing the Blues

Mit 88 Jahren blickt Südafrikas grosser Jazzpianist Abdullah Ibrahim auf eine einzigartige Karriere zurück. Vor 60 Jahren kehrte der gebürtige Kapstädter dem Apartheid-Regime den Rücken und spielte seine ersten Konzerte in Europa im legendären Zürcher Jazzclub «Africana», wo er von Duke Ellington höchstpersönlich entdeckt und gefördert wurde. Es folgten unzählige Konzerte auf allen grossen Bühnen der Welt, seine Beziehung zur Schweiz aber blieb immer besonders eng. Das zeigte sich auch bei seinem letzten Schweizer Konzert in der Tonhalle Maag in Zürich von Ende Januar 2020, das zum langen bejubelten Triumph geriet: Seine Fans waren restlos begeistert von der aus Township-Hymnen und Kwela-Tanzmusik gespeisten Musik, die in ihrer repetitiven Einfachheit einen mitreissenden Sog entfaltet. Auf seinem anfangs 2022 veröffentlichten Solo-Album «Solotude» zeigt sich Ibrahim als Ton Maler auf dem Jazzklavier – sein hymnisches Spiel ist stets von einem tief in der Seele lodernden Feuer geprägt und verbindet Wohlklang mit Tiefgang.

Aus Dollar Brand wird Abdullah Ibrahim

Abdullah Ibrahim vertieft in sein Spiel
Abdullah Ibrahim vertieft in sein Spiel

Als Dollar Brand war er berühmt geworden, nachdem er 1962 vor dem Apartheid-Regime aus Südafrika geflohen war. Mit seinem Pianospiel hat er die südafrikanischen Melodien und Rhythmen in den Jazz gebracht. Eine Zeit lang lebte er in Zürich, wo seine Konzerte im Café Africana viele lokale Jazzmusiker inspiriert haben, so auch die junge Irène Schweizer. Gefördert von Duke Ellington, ist er mit Alben und Projekten weltweit berühmt geworden. Sein Song «Manneberg» (1974) wurde zur inoffiziellen Hymne der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika.

Auf Einladung von Nelson Mandela kehrte Ibrahim 1990 nach Kapstadt zurück. 1994 spielte er bei dessen Amtseinführung. Zu den sozialen Projekten, die Abdullah Ibrahim in Südafrika initiiert hat, gehört neu auch das Klimaprojekt The Green Kalahari Project. Ibrahim lebt heute mit seiner zweiten Frau im Chiemgau in Bayern.

«Ekaya» bedeutet Heimat und tatsächlich hat die Formation Ekaya, die 1983 von Abdullah Ibrahim gegründet wurde, mit seinen Melodien das Publikum im vollen Konzertsaal des KKL in die Weite und Schönheit seiner südafrikanischen Heimat entführt. Dem 7-köpfigen Jazzensemble, das aus seinem Trio und einem Bläsersatz besteht, ist es gelungen, die von Abdullah Ibrahim komponierten Stücke in einen meditativen Klangteppich zu verwandeln, immer äusserst präzise und harmonisch gespielt, reduziert auf eine beruhigende und schlichte Einfachheit, frei von künstlicher, demonstrativer Virtuosität.

Zugleich zeigte aber der Künstler Abdullah Ibrahim das breite Spektrum seiner musikalischen Heimat. Der heute 88-jährige, aufgewachsen als Adolf Johannes Brand in einem Township von Kapstadt, begann schon als siebenjähriger Junge Klavier zu spielen. 1962 wurde er mit seinem «Dollar Brand Trio» von Duke Ellington entdeckt und in der Folge stark von ihm und später den Pianisten Thelonious Monk und Keith Jarrett beeinflusst. All diese Einflüsse sind verwoben und vernetzt in der Musik von Ekaya wieder zu finden, in einer ruhigen Einheit, kontemplativ und in sanften Legato.

Auf ins Konzert

Abdullah-Ibrahim
Abdullah Ibrahim

Das Konzert begann mit einem eindrücklichen, wenn auch etwas gar langem, Solo von Abdullah Ibrahim, bevor seine Mitmusiker auf die Bühne kamen und einen satten, dennoch samtenen Klangteppich legten. Die einzelnen Soli, streng überwacht vom Meister am Flügel, variierten die Muster, sehr strukturiert, beherrscht und harmonisch. Man hätte sich mal einen Ausbruch gewünscht, eine Überraschung, ein Chaos gar, wie es eben auch und gerade auf einem afrikanischen Marktplatz stattfinden könnte. Aber an diesem Abend blieben die Akkorde wohlselektiert und angenehm zu hören für das Ohr und führten den Zuhörer nach innen, in seine, Abdullah Ibrahims Träume und Vorstellungen von eigener Heimat.

Wo Abdullah Ibrahim draufstand, war leider etwas  wenig Abdullah Ibrahim drin

Meistens beteiligte sich der Altmeister kaum akustisch am Geschehen, spielte also nicht mit auf dem Konzertflügel, sondern begnügte sich mit kleiner Gestik mittels Handzeichen oder kurzem, zustimmenden Kopfnicken. Er war also äusserst sparsam  mit seinem Zutun am Klavier, was das Auditorium etwas ratlos, erstaunt, gar etwas enttäuscht hinnahm. Nichts von technischer Raffinesse, explosiven Ausbrüchen, rasanten Läufen, Fingerjagden über das Elfenbein, keine punktuell hingeknallten Harmonien, nichts von berauschendem rasanten Furioso auf den 88 Tasten, die ihm die Welt bedeuten.

Etwas gar zahme, zu strukturierte Dramaturgie

Abdullah Ibrahim hochkonzentriert
Abdullah Ibrahim hochkonzentriert

Für mein Gusto ein zu enges Korsett für die eigentlich sehr spielfreudig wirkenden Männer mit ihren Blasinstrumenten. Der einzige, der konstant wirbelte, Bassist  Noah Jackson, nahm sich ein paar, wenn auch kleinere, Freiheiten heraus, Drummer Willie Terrill blieb sich und den Anweisungen des Leaders treu, also zurückhaltend unaufdringlich, bis auf die eine Ausnahme und dramaturgisch völlig fehl am Platz das erste Solo des Drummers, nicht als Abschluss und Krönung eines gut gespielten Sets, sondern völlig unmotiviert zwischen zwei der insgesamt bloss acht verschiedenen Themes, die während der 90 Minuten aufgegriffen wurden. Die späteren Drummer Einlagen waren dann dort, wo sie hinpassten, mal im Dialog mit dem Bassisten, mal gar als klassisches Jazztrio, also  mit Klavier, Bass und Drums.

Räumlich zu separiert von seinen Mitmusikern

Etwas unglücklich Ibrahims Platzierung ziemlich weit entfernt von der Band, sodass nie ein richtig ganzes Eines entstand, dazu überliess der Chef die Szene eigentlich komplett seinen, zugegeben, ebenfalls grossartigen Mitmusikern, ergriff fast nie die Gelegenheit, um eine brillante Solosequenz einzustreuen, während der Bassist fast pausenlos die Saiten rauf und runter turnte und der Schlagzeuger brav seine Besen angenehm zurückhaltend einsetzte. Dann, schon fast stur, die Soli der einzelnen Musiker immer in der gleichen Abfolge, Altosax, Tenorsax, Posaune und Baritonsaxophon. Alle acht interpretierten Stücke waren charakterlich sehr ähnliche, ruhige Werke, liessen etwas die überschäumende afrikanische Lebensfreude vermissen.

Andeutung von Dollar Brands Antiapartheidhymne als Supplement

Abdullah Ibrahim privat
Abdullah Ibrahim privat

Zum Schluss gabs dann noch eine «Andeutung» von «Mannenberg»  ( ein Musikstück von Abdullah Ibrahim, ( damals, vor Übertritt zum Islam,  noch Dollar Brand) das 1974 erstmals auf Schallplatte erschien. Es gilt als Symbol gegen die damalige Apartheidpolitik in Südafrika. Der Titel bezieht sich auf das Township Manenberg nahe Kapstadt, das von zwangsumgesiedelten Coloureds bewohnt wurde. Das Stück ist dem Cape-Jazz zuzurechnen).

Trotz der leisen Enttäuschung über das etwas blasse Konzert, wahrscheinlich auch dem doch recht hohen Alter des Südafrikaners geschuldet, wurden die Künstler am Schluss mit stehender Ovation gefeiert, wobei der Meister im Hintergrund blieb und seine Musiker mit klaren Handbewegungen zu ihren Verbeugungen und zum Entgegennehmen des Applauses aufforderte. Erst nach einer äusserst grosszügigen Zugabe, die zudem zum Besten gehörte, was an diesem Abend gespielt wurde, verneigte sich auch der grosse Meister Abdullah Ibrahim vor seinem Publikum und schritt anschliessend sehr würdevoll von der Bühne. Ein eindrücklicher und bereichernder Abend für ein sehr aufmerksames, etwas erstauntes, aber trotzdem  dankbares Publikum.

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: www.allblues.ch  und  https://www.jazzluzern.ch/

: abdullahibrahim.co.za/

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Abdullah Ibrahim in Action

Abdullah Ibrahim Meister am Piano

Abdullah Ibrahim mit Band

 

Abdullah Ibrahim in Aktion

 

Die Protagonisten geniessen den Schlussapplaus Foto Vanessa Bösch

Die Protagonisten geniessen den Schlussapplaus Foto Vanessa Bösch

 

Die Protagonisten geniessen den Schlussapplaus Foto Vanessa Bösch

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Lucerne Festival Orchestra | Andrés Orozco-Estrada | Pablo Ferrández u.a. KKL Luzern, 2. April 2023 besucht von Léonard Wüst

Das Lucerne Festival Orchestra mit dem Cellisten Pablo Ferrández unter Andrés Orozco-Estrada Foto Priska Ketterer
Das Lucerne Festival Orchestra mit dem Cellisten Pablo Ferrández unter Andrés Orozco-Estrada Foto Priska Ketterer

Besetzung und Programm:
Lucerne Festival Orchestra
MDR-Rundfunkchor
Andrés Orozco-Estrada Dirigent
Pablo Ferrández Violoncello
Regula Mühlemann Sopran
Simona Šaturová Sopran
Allan Clayton Tenor
Robert Schumann (1810–1856)
Cellokonzert a-Moll op. 129
Felix Mendelssohn (1809–1847)
Sinfonie Nr. 2 B-Dur op. 52 Lobgesang

Robert Schumann Cellokonzert a-Moll op. 129

Solo Cellist Pablo Ferrández wurde 1991 in Madrid geboren und studierte an der renommierten Escuela Superior de Música Reina Sofía bei Natalia Shakhovskaya und an der Kronberg Academy bei Frans Helmerson. Zudem war er Stipendiat der Anne-Sophie Mutter Stiftung.

Zum Werk Schumanns

Konzertfoto von Priska Ketterer
Konzertfoto von Priska Ketterer

Dieses Werk schrieb Schumann innerhalb von zwei Wochen. Während es großen Anklang bei seiner Frau Clara fand – sie lobte vor allem das Spielerische –, sagte es dem Widmungsträger Emil Bockmühl hingegen nicht zu. Er forderte einen neuen dritten Satz und behauptete, das Werk sei insgesamt zu wenig melodisch. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass ihm das Stück schlicht zu anspruchsvoll war. Bockmühl wollte es in dieser Form jedenfalls nicht aufführen, Schumann keine Änderungen vornehmen. (In einem Zeitraum von über zwei Jahren richtete Bockmühl nicht weniger als 26 Briefe an Schumann, in denen er sich ausführlich und zum Teil höchst kritisch über das Cellokonzert und die Möglichkeit seiner Aufführung äußert, die sechs Antwortschreiben Schumanns waren bislang nicht aufzufinden). So kam es, dass der Komponist sein Cellokonzert nie im Konzertsaal hörte. Erst am 23. April 1860, vier Jahre nach Schumanns Tod, wurde es in Oldenburg uraufgeführt.

Kein typisches Cellokonzert

Konzertfoto von Priska Ketterer
Konzertfoto von Priska Ketterer

Eine Fantasie für Orchester mit obligatem Cello? Der Beginn generiert Klänge wie von einer Orgel. Kein Thema, nur drei wechselnde Akkorde der Holzbläser. Doch sind sie Keimzellen, die später wiederkehren, die Form des Ganzen miteinander verklammert. Drei Sätze, die nahtlos ineinander übergehen. Das Cello setzt ein. Leise. Lyrisch. Ausdrucksvoll. Dazu machte sich der deutsche Cellist Alban Gerhardt sehr persönliche Gedanken: “Dieser sehr schwelgerische Beginn ist gar nicht schwelgerisch gemeint: Schumann schreibt dieses schnelle Tempo und er schreibt piano; die ganze Einleitung ist im piano gehalten.

Konzertfoto von Priska Ketterer
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Das Stück beginnt mit drei kurzen, schwermütigen Harmonien der Bläser, die eine melancholische Stimmung entstehen lassen und auf die das vom Solisten präsentierte Hauptthema folgt. „Vor allem das Hauptthema im ersten Satz ist eines der schönsten, das es je für Cello gegeben hat“, sagt der französische CellistJean-Guihen Queyras begeistert. Der zweite Satz („Langsam“) wirkt wie eine kurze Ruhepause, bevor im letzten Satz schnelle Läufe und große Sprünge die Solisten vor eine große Herausforderung stellen. Von Schumann spielerisch gemeint, wirkt dieser letzte Satz für manche so skurril, dass das Stück später sogar als der Beginn von Schumanns geistiger Verwirrtheit – Spätfolgen einer Syphilisinfektion – beschrieben wurde.

Schumann stellte nicht die blosse Virtuosität in den Vordergrund

Konzertfoto von Priska Ketterer
Konzertfoto von Priska Ketterer

Wie ist Schumann in seinem Cellokonzert mit diesen Schwierigkeiten umgegangen? Die Virtuosität steht bei ihm nie im Vordergrund – was nicht heißt, dass das Konzert leicht zu spielen wäre, im Gegenteil. Aber es gibt darin keine Zirkusnummern. Stattdessen hat er eine der großen Qualitäten ins Zentrum gestellt, die das Instrument auszeichnen: das Gesangliche, die Kantabilität. Das Cello darf das ganze Konzert über mit viel Seele singen. Und damit es nicht vom Orchester übertönt wird, hat Schumann das Tutti mit allergrößter Zurückhaltung behandelt. Das Orchester spielt hier und da ein paar Einwürfe und Überleitungen oder tritt mit dem Solisten in Dialog. Aber meist begleitet es ihn mit vornehmer Diskretion. Die Klangpalette des Orchesters behandelt Schumann sehr sparsam: die Streicher überwiegen, Holz- und Blechbläser setzen nur ein paar Tupfer dazwischen.
Der Solist intonierte äussrst sensibel, mit viel Feingefühl, liess aber bei virtuoseren Sequenzen durchaus sein iberisches Temperament durchschimmern.
Das Luzerner Renommierorchester und der kolumbanische Gastdirigent Andrés Orozco-Estrada supportierten ihn dabei grossartig, begeisterten das Publikum im ausverkauften Konzertsaal und wurden dafür mit einem stürmischen, langanhaltendem Applaus belohnt.

Felix Mendelssohn Sinfonie Nr. 2 B-Dur op. 52 Lobgesang «Lobe den Herrn»

Mendelssohns Lobgesang Regula Mühlemann im Duett mit Simona Saturova Foto Priska Ketterer
Mendelssohns Lobgesang Regula Mühlemann im Duett mit Simona Saturova Foto Priska Ketterer

Den Auftrag zur Komposition erhielt Mendelssohn wohl 1839 vom Rat der Stadt Leipzig anlässlich der Vierhundertjahrfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg. Mendelssohn rang lange mit der geeigneten Form für das Werk, dachte an ein Oratorium oder eine großangelegte Psalmvertonung, bis er schließlich in einer Mischung aus Sinfonie und Kantate die für ihn geeignete Form fand. So entstand der „Lobgesang“, der am 25. Juni 1840 in einem großen Festkonzert in der Leipziger Thomaskirche erstmals erklang. Daran beteiligt waren etwa 500 Personen, (in Luzern waren es ca. 160), in der total überfüllten Kirche, das Gewandhausorchester und verschiedene Chöre. Später erweiterte Mendelssohn das Werk noch um einige weitere Sätze. Die zweite Fassung des Werks erklang erstmals am 3. Dezember 1840 in Leipzig.

Urteil von Musik Analysten

Die musikalischen Analysten haben im „Lobgesang“ noch allerhand sonstige geistreiche Verflechtungen von Musik und Text und mehr oder weniger offenkundige symbolische Elemente aufgespürt, wie man sie nicht zuletzt von Johann Sebastian Bach kennt, in dessen heiligen Hallen das Werk uraufgeführt wurde. So sind etwa auch die Tonarten Folge und damit die Stimmung der Werkteile vom Grundgedanken geprägt, dass das Licht über die Finsternis siegt. Nach dem Abstieg in dunkles Moll folgt jeweils der Aufstieg in strahlendes Dur.

Das Werk erfuhr erst späte Anerkennung

Tenor Allan Clayton Foto Priska Ketterer
Tenor Allan Clayton Foto Priska Ketterer

Nach anfänglich eher zurückhaltender Annahme des Werks bei Kritikern und andern Komponisten, wird inzwischen anerkannt, dass der „Lobgesang“ einer eigenen höchst kunstvollen Logik folgt, und dass er an dieser zu messen ist. Die inhaltliche Grundidee ist die Parallelisierung des biblischen Geschehens und des aktuellen Festanlasses. Der Erlösung des Volkes Israel, das im Dunkeln der Glaubensungewissheit gefangen ist, durch Gott wird die Erlösung aus dem Dunkel der Unwissenheit gegenübergestellt, welche die Menschheit durch die Erfindung der Druckkunst erfuhr. Die verbindende Metapher ist das Bild von der Nacht, aus welcher die Menschheit in das Licht der Erkenntnis geführt wird. Besonders deutlich wird dies in der Nr. 6 des Werkes, wo der Solo Tenor, hervorragend an diesem Abend Allan Clayton, drei Mal in jeweils gesteigerter Tonlage fragt: „Hüter, ist die Nacht bald hin?“, worauf der Chor, nachdem der Solo-Sopran das Weichen der Dunkelheit angekündigt hat, strahlend „Die Nacht ist vergangen“ intoniert.
Besonders anschaulich wird dies an dem kraftvollen Eingangsmotiv der Posaunen, welches das ganze Orchester jeweils in der Art eines responsorischen Gemeindegesangs beantwortet. Dieses Motiv durchzieht in einfallsreicher polyphoner Verarbeitung den ganzen ersten Satz des symphonischen Teiles, um am Ende auch den triumphalen Abschluss des Gesamtwerkes zu bilden. Seine volle Bedeutung erschließt sich erst, wenn der Chor ihm die beziehungsreich auf den Gesang gemünzten (Psalm)Worte „Alles, was Odem hat, lobet den Herrn“ unterlegt. Ähnliches gilt für die choralartige Passage im Mittelteil des liedhaft-idyllischen zweiten Orchester Satzes, die durch den Chor Choral der Nr. 8 mit dem Text „Nun danket alle Gott“ ihre nachträgliche Bedeutung erhält. Was man als bloße Verdoppelung des musikalischen Materials kritisiert hat, wäre damit, anders als bei Beethovens 9. Symphonie, der tiefsinnige Versuch einer Synthese von absoluter und programmatischer Musik. Das ambitionierte Werk ist offensichtlich im Ganzen vom Gedanken der Synthese durchdrungen. Es verbindet nicht nur biblische und deutsche Vergangenheit mit der Gegenwart, sondern auch die verschiedensten tradierten Gattungen der Kunstmusik – von der Symphonie über die Kantate und das Oratorium bis zur responsorischen Psalmodie und dem Choral. Mit seinen vielfältigen kulturgeschichtlichen Rückgriffen ist das Werk ein genuines Produkt des musikalischen Historismus, als dessen führender Mitbegründer Mendelssohn gilt.

Orchester in Topform auf Weltklasseniveau

Konzertfoto von Priska Ketterer
Konzertfoto von Priska Ketterer

Das Orchester legte den fabelhaften Klangteppich, auf dem die zwei Sopranistinnen und der englische Tenor Allan Clayton, mit ihrem gesanglichen Können glänzen konnten. Natürlich besonders im Rampenlicht, aber auch herausragend, die Luzernerin Regula Mühlemann, inzwischen längst auf allen grossen Bühnen der Welt, von der Scala inn Mailand bis zur Yorker Met, gefeiert. Da musste die Slowenin Simona Šaturová , obwohl auch grossartig, zwangsläufig hintanstehen.
Auf qualitativ gleicher Ebene wie Mühlemann der englische Tenor, der bei uns noch nicht ganz so bekannt ist, was sich aber, bei solch überzeugender Leistung, schnell ändern wird, gilt Allan Clayton doch als einer der gefragtesten Sänger seiner Generation. Er studierte am St. Johns College in Cambridge und an der Royal Academy of Music in London. Für seine Künstlerischen Leistungen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen.

(Allan erhielt großes Lob als Hauptrolle in Brett Deans Oper „Hamlet“, die im Juni 2017 in Glyndebourne Weltpremiere feierte. Im selben Jahr interpretierte er die Rolle des David in Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ am Royal Opera House in Covent Garden).

Mendelssohn bleibt Oratorien Tradition treu
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Mehrfach lässt Mendelssohn auch Textstellen zunächst von den Solisten ausführen und dann vom Chor wiederholen, und symbolisiert so die Ausbreitung der Erleuchtung im Volk Gottes. Mendelssohn folgt mit der Form der Textbehandlung der Oratorien Tradition des 18. Jahrhunderts.

Mächtige Klänge im grossen Konzertsaal

Die Mitwirkenden, fast 200 an der Zahl hatten natürlich auch das dementsprechende Klangvolumen und so erklang dann teils wuchtige Musik, in den Orchester und Chorpassagen, wohltuend diskret begleitend, wenn die “Solosänger*innen” ihre Einsätze vortrugen.
Ein eindrückliches Gesamtkunstwerk, mal mit grosser Palette und dickem Pinsel aufgetragen, mal mit feinen Bleistiftstrichen akustisch gemalt und vom Auditorium demensprechend mit kanganhaltender Akklamation und einer stehenden Ovation bedacht.

Fazit des Mendelssohn Frühlingsfestes mit 3 Konzerten

Obwohl bei den beiden Konzerten mit dem Lucerne Festival Orchestra, Chefdirigent Riccardo Chailly krankheitshalber kurzfristig ersetzt werden musste und ebenbürtig auch konnte, wurde es musikaliscjh, wie auch statistisch, mit der fast unglaublichen Auslastung von über 90%, ein grossartiges Wochenende im KLL Luzern an den Gestaden des Luzerner Seebeckens.

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: www.lucernefestival.ch

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Konzertfoto von Priska Ketterer

Leitung Andrés Orozco-Estrada

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Andrés Orozco-Estrada Dirigent

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Mendelssohns Lobgesang Regula Mühlemann im Duett mit Simona Saturova Foto Priska Ketterer

Regula Mühlemann Sopran

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