Bildung als Schlüssel für Teilhabe: Frühe Förderung zahlt sich aus
Nach wie vor ist der Bildungserfolg in Deutschland stark abhängig von der
sozialen Herkunft und den damit verbundenen finanziellen Ressourcen sowie
dem Bildungshintergrund der Familien. Kinder und Jugendliche mit
Migrationshintergrund leben überproportional häufig in einkommensschwachen
Familien und sind daher besonders benachteiligt.
Das gilt vor allem für
neuzugewanderte Kinder mit geringen Deutschkenntnissen und solche mit
Fluchtbiografie. Das aktuelle Positionspapier des Sachverständigenrats für
Migration und Integration (SVR) „Bildung als Schlüssel für
gesellschaftliche Teilhabe“ beschreibt Wege zu einer chancengerechteren
Bildung für alle.
„Das Fundament für einen erfolgreichen Bildungsweg wird bereits in der
Kita gelegt“, sagt Prof. Birgit Leyendecker, Mitglied im
Sachverständigenrat für Integration und Migration und Expertin für
frühkindliche Bildung. „Insbesondere Kinder, die zuhause nicht Deutsch
sprechen und solche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien
profitieren von einer frühzeitigen Förderung in der Kita.“ Kinder mit
Fluchthintergrund haben wie alle anderen Kinder einen Rechtsanspruch auf
einen Kita-Betreuungsplatz, sobald sie das erste Lebensjahr vollendet
haben. Jedoch nehmen selbst zugewanderte Eltern weniger oft einen
Kitaplatz für ihre Kinder unter drei Jahren in Anspruch als in Deutschland
geborene Eltern mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. „Das liegt nicht an
fehlendem Interesse bei den Eltern“, so Prof. Leyendecker.
„Neuzugewanderte Familien sehen sich aber strukturellen Hürden gegenüber:
Sie kennen sich häufig nicht genügend im deutschen Bildungssystem aus und
fürchten eine wenig kultursensible Betreuung. Zudem erleben sie immer
wieder Diskriminierung bei der Platzvergabe. Bei ärmeren Familien können
selbst vergleichsweise geringe Kitagebühren eine Rolle spielen.“
„Im Bildungsbereich lohnt es sich, in die Anfänge zu investieren und
Zugangshürden für benachteiligte Gruppen zu senken. Das möglichst frühe
Erlernen einer Sprache, bevorzugt alltagsintegriert in der Kita, und ein
chancengerechter Zugang zu Bildung fördern die Integration und erleichtern
den weiteren Bildungsweg. Bildung ist nicht nur ein Menschenrecht, das
damit für alle in Deutschland lebenden Personen unabhängig von ihrem
Aufenthaltsstatus gilt, sondern ein wesentlicher Schlüssel zu
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Teilhabe“, so Prof. Havva Engin,
Mitglied im SVR und Bildungsexpertin mit Schwerpunkt auf interkulturelle
Bildung und Mehrsprachigkeit. „Wichtig ist eine durchgängige
Sprachbildung, die mit den Sprachförderkonzepten der Grundschule verzahnt
ist. Daher begrüßt der SVR, dass die Bundesregierung das Sprach-Kita-
Programm wieder auflegen und fortführen möchte.“ Den Ländern empfiehlt der
SVR, die sprachlichen Kompetenzen aller Kinder validiert zu erheben und
auf dieser Basis Sprachförderung bedarfsgerecht anzusetzen.
Die schulische Bildung sollte konsequent auf Potenzialentfaltung
ausgerichtet werden. „Auch hier sollte ungleiches ungleich behandelt
werden und Schulen in herausgeforderten Lagen, an denen häufig
überproportional viele Kinder aus einkommensschwachen Familien und aus
Familien mit Zuwanderungshintergrund lernen, sollten gezielt unterstützt
werden. Sehr zu begrüßen ist das Startchancen-Programm von Bund und
Ländern, das genau hier ansetzt“, so Prof. Leyendecker. Der SVR empfiehlt
den Ländern, eine sozialindexbasierte Schulfinanzierung einzuführen oder
auszubauen; Modelle hierzu gibt es bereits. Kinder und Jugendlichen mit
Fluchtbiografie sollte auch in der Praxis ein rascher Zugang zu
Schulbildung gewährt werden; die EU-Aufnahmerichtlinie sieht einen
Schulzugang spätestens zwei Monate nach Stellung eines Asylantrags vor.
„Dass neuzugewanderte Kinder und Jugendliche unabhängig von einem
Fluchthintergrund teilweise in Vorbereitungsklassen eingeschult werden,
kann für den Übergang und die erste Phase der Eingewöhnung und des
Spracherwerbs sinnvoll sein. Inzwischen mehren sich aber Hinweise aus
wissenschaftlichen Studien, dass sie auf Dauer weniger gut geeignet sind,
Kinder zu einem höherqualifizierenden oder überhaupt zu einem
Schulabschluss zu führen. Der SVR empfiehlt den Ländern daher, möglichst
früh eine Einmündung in die Regelklassen zum Standard zu machen“, erklärt
Prof. Engin.
„Für Kinder und Jugendliche mit Fluchtbiografie ist ein schnellerer
Schuleinstieg wichtig, um ihnen einen Schul- oder qualifizierenden
Berufsschulabschluss zu ermöglichen oder ihn nachzuholen. Da sie zum Teil
unterbrochene Bildungsbiografien und Lernrückstände mitbringen und die
deutsche Sprache erst lernen müssen, fallen sie sonst durch das Raster und
bleiben dann ohne Schulabschluss – mit negativen Folgen für die weitere
Berufslaufbahn. Dies gilt insbesondere für ältere geflüchtete Jugendliche
oder junge Erwachsene, da zum Ende des 18. Lebensjahres die Schul- und
Berufsschulpflicht endet“, sagt Prof. Leyendecker. Der SVR empfiehlt daher
den Ländern, die Berufsschulpflicht für geflüchtete junge Erwachsene
auszuweiten; dies würde ihnen ermöglichen, die Sprache zu lernen und sich
auf die Berufsausbildung vorzubereiten, damit sie diese dann auch
erfolgreich abschließen können.
„Sprachliche und kulturelle Vielfalt sind längst eine Normalität in
deutschen Bildungsinstitutionen“, so Prof. Engin. „Und es sind schon viele
Maßnahmen ergriffen worden, um Kitas, Schulen und Hochschulen auf diese
Vielfalt einzustellen. Wir wissen allerdings nur ansatzweise, welche
Effekte sie haben. Wir empfehlen daher, Maßnahmen konsequent zu
evaluieren. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass Ressourcen
bedarfsgerecht eingesetzt werden und Kinder und Jugendliche unabhängig von
ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft die gleiche Chance auf
Bildungserfolg bekommen.“
Der SVR empfiehlt in seinem Positionspapier weitere Maßnahmen für eine
chancengerechte Bildung:
• Die Sensibilität für Diversität in der Lehrkräftebildung stärken
• Das Potenzial zugewanderter Pädagoginnen und Pädagogen nutzen
• Brückenangebote bis zum Kita- oder Schuleintritt qualitativ
hochwertig gestalten
• Geflüchtete junge Frauen im Blick behalten
• Studienerfolg durch Beratung und Unterstützung wahrscheinlicher
machen
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Über den Sachverständigenrat:
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges
und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen
Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung
bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen
sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und
Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Winfried Kluth (Vorsitzender), Prof.
Dr. Birgit Glorius (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin,
Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Matthias Koenig, Prof. Sandra Lavenex,
Ph. D., Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Panu Poutvaara, Ph. D., Prof.
Dr. Hannes Schammann.
Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de
Originalpublikation:
https://www.svr-migration.de/p
gesellschaftliche-teilhabe/
Das SVR-Positionspapier „Bildung als Schlüssel für gesellschaftliche
Teilhabe“ kann hier heruntergeladen werden.
