Neuer Verteilungsbericht des WSI
Einkommensungleichheit seit 2018 weiter angestiegen – Vertrauen in
staatliche Institutionen sinkt mit EinkommenSeit 2010 ist die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland deutlich
gestiegen, ab 2018 hat sich der Zuwachs an Ungleichheit noch einmal
spürbar beschleunigt und nach den aktuellsten verfügbaren Daten des Sozio-
ökonomischen Panels einen neuen Höchststand erreicht.
Die Quote der Menschen, die in Armut leben, liegt ebenfalls bei einem
Höchstwert (detaillierte Daten unten und in den Abbildungen in der pdf-
Version dieser PM; Link unten). Einen erheblichen Einfluss hatte, dass die
ausgleichende Umverteilungswirkung durch Steuern und Sozialtransfers seit
2010 tendenziell abgenommen hat. Insgesamt haben somit Personen mit
niedrigen Einkommen von der relativ positiven Wirtschafts- und
Einkommensentwicklung im vergangenen Jahrzehnt oft nur vergleichsweise
wenig abbekommen – auch wenn der gesetzliche Mindestlohn durchaus einen
positiven Einfluss bei den Erwerbs- und damit auch bei den verfügbaren
Einkommen hatte. Zudem sind solche Menschen von den Krisen seit 2020 am
stärksten betroffen. Zu diesen Ergebnissen kommt der neue
Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
(WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.*
Parallel zur wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit nimmt laut der
Studie die gesellschaftliche Polarisierung zu. Dabei zeigen sich deutliche
Zusammenhänge auf mehreren Ebenen: Je niedriger das Einkommen ist, desto
geringer fällt etwa das Vertrauen in staatliche und demokratische
Institutionen aus. So vertraut knapp ein Viertel bzw. knapp ein Drittel
der Erwerbspersonen unterhalb der Armutsgrenze Polizei oder Gerichten
nicht oder nur in geringem Maße. Auch bei Angehörigen der unteren
Mittelschicht ist die Skepsis erheblich (siehe auch Abbildung 1 in der
pdf-Version). Und obwohl die Beteiligung bei der Bundestagswahl 2025 in
allen Einkommensgruppen deutlich höher war als bei den Bundestagswahlen
davor, lag sie auch dieses Mal mit sinkendem Einkommen niedriger. Schaut
man auf die konkrete Wahlentscheidung, haben Erwerbspersonen, die in Armut
leben, ihre Stimme überdurchschnittlich oft der AfD oder der Linken
gegeben (Abbildung 2 in der pdf-Version; Link unten).
„Steigt die Ungleichheit der Einkommen, steigt gleichzeitig auch die
Ungleichverteilung der Teilhabemöglichkeiten. Die Frage, wie sich die
Konzentration der Einkommen entwickelt, hat somit eine eminent
gesellschaftspolitische Bedeutung“, interpretiert Dr. Dorothee Spannagel,
WSI-Verteilungsexpertin und Studienautorin, die Befunde. Das gelte gerade
für die jüngste Entwicklung: Allein zwischen 2018 und 2022, dem
aktuellsten Jahr, für das im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP)
Einkommensdaten vorliegen, ist der Gini-Koeffizient, der bekannteste
statistische Indikator für Einkommensungleichheit, um gut sechs Prozent
gestiegen (siehe auch Abbildung 3). „Das ist eine starke Zunahme, und
dieser Trend wird durch Ergebnisse anderer Indikatoren unterstrichen“,
sagt die WSI-Forscherin. Im Ergebnis hat die statistisch gemessene
Einkommensungleichheit in Deutschland den höchsten Stand erreicht, seitdem
das SOEP 1984 eingeführt wurde. Diese jährlich vom DIW Berlin
durchgeführte Panelbefragung in 22.000 Haushalten ist eine maßgebliche
Datenquelle für die Einkommenserhebung in Deutschland und den neuen
Verteilungsbericht. Zudem stützt sich Spannagel auf die
Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung, für die seit 2020
regelmäßig 5.000 bis 7.500 Erwerbstätige und Arbeitsuchende befragt werden
– zuletzt nach der Bundestagswahl im März 2025.
„Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz spricht von einer globalen
Ungleichheitskrise. Eine Variante sehen wir zunehmend deutlich auch bei
uns in Deutschland. Wenn es eine soziale Marktwirtschaft nicht schafft,
ihr Teilhabe- und Fairnessversprechen einzuhalten, ist das hoch
problematisch für ihre Akzeptanz – und auch für die Akzeptanz unserer
Demokratie“, ordnet Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche
Direktorin des WSI, die Studienergebnisse ein. „Geradezu fatal ist es,
wenn wirtschaftlich Mächtige und politisch Verantwortliche daraus die
genau falschen Schlüsse ziehen. Mehr Einzelkämpfertum statt Miteinander,
neue Hürden für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch deregulierte
Arbeitszeiten, Abbau sozialer Rechte und sozialer Sicherung,
Erleichterungen vor allem für Wohlhabende – das wird die Probleme unserer
Gesellschaft nicht lösen, sondern verschärfen“, sagt die Soziologin.
„Stattdessen sollten wir uns auf unsere Stärken besinnen und bewährte
Arrangements erneuern, die leider erodiert sind. Dazu zählen Tarifverträge
als praxisnahe, fair verhandelte und verbindliche Regeln im Arbeitsleben.
Dazu zählt ein tragfähiges soziales Netz, das auch Mut dazu macht, sich
auf Wandel und Transformation einzulassen, und eine leistungsfähige
öffentliche Infrastruktur, von funktionierenden Verkehrswegen und
bezahlbarer Energie bis zum Bildungs- und dem Gesundheitssystem. Und dazu
zählt eine fairere Steuerpolitik, die Privilegierungen für sehr hohe
Vermögen abbaut. Etwa durch weniger Schlupflöcher für Superreiche bei der
Erbschaftsteuer und die Wiedereinführung der Vermögensteuer.“
In den Mittelpunkt des Verteilungsberichts 2025 stellt WSI-Expertin
Spannagel die Einkommensentwicklung und insbesondere die Trends bei
„armen“ und „reichen“ Haushalten. Dabei orientiert sie sich an in der
Wissenschaft etablierten Maßstäben: Haushalte in Armut sind die mit
Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren (Median-)Einkommens, was
beispielsweise einem jährlichen Nettoeinkommen von weniger als 25.732 Euro
für eine alleinlebende Person entspricht; Haushalte, die über weniger als
50 Prozent des Medianeinkommens verfügen, leben in „strenger Armut“. Auf
der anderen Seite der Verteilungsskala finden sich Haushalte mit mehr als
200 Prozent des Medianeinkommens. Ab dieser Grenze, die aktuell bei knapp
51.500 Euro netto für einen Single liegt, gilt ein Haushalt als
einkommensreich. Sind es mehr als 300 Prozent, spricht man von großem
Einkommensreichtum. Haushalte mit Einkommen oberhalb von 60 bis unterhalb
von 200 Euro des Medians werden zur Mittelschicht gezählt. Dabei geht es
jeweils um das verfügbare Haushaltsnettoeinkommen, das heißt nach
Abrechnung von Steuern und Abgaben und Hinzurechnung von Transfers.
Haushalte unterschiedlicher Größe werden über eine sogenannte
Äquivalenzgewichtung auf Basis einer OECD-Skala vergleichbar gemacht.
Die Ergebnisse im Einzelnen:
– Ungleichheit der Einkommen auf Höchststand –
Wie gleich oder ungleich die Einkommen verteilt sind, lässt sich über
mehrere statistische Maße ermitteln. Das in der Wissenschaft am häufigsten
verwendete ist der so genannte Gini-Koeffizient. Der „Gini“ reicht
theoretisch von null bis eins: Beim Wert null hätten alle Menschen in
Deutschland das gleiche Einkommen, bei eins würde das gesamte Einkommen im
Land auf eine einzige Person entfallen. Diese Bandbreite macht deutlich,
dass auch vermeintlich kleine Änderungen des Koeffizienten erhebliche
Bedeutung haben. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren gab es
bereits einen deutlichen Zuwachs der Einkommensungleichheit in
Deutschland, der auch im internationalen Vergleich enorm stark ausfiel.
Danach verharrte der Wert einige Zeit auf dem erhöhten Niveau. Die
Auswertung der neuesten verfügbaren SOEP-Daten im Verteilungsbericht
zeigt, dass sich der Anstieg der Ungleichheit ab 2010 dann weiter
fortgesetzt hat – in leichten Wellenbewegungen, aber insgesamt mit
eindeutiger Tendenz und ab 2018 deutlich beschleunigt: 2010 lag der Gini-
Wert noch bei 0,282. Bis 2022 kletterte er auf einen neuen Höchststand von
0,310 (Abbildung 3 in der pdf-Version dieser PM).
Der Trend zu mehr Ungleichheit zeigt sich unabhängig von der
Fluchtmigration im letzten Jahrzehnt, er fällt allerdings schwächer aus,
wenn man die Einkommensdaten geflüchteter Menschen bei der statistischen
Analyse ausklammert. Tut man das, zeigt sich auf niedrigerem Niveau
ebenfalls ein deutlicher Anstieg des Gini-Wertes.
Der sogenannte Theil-Index reagiert insbesondere auf Veränderungen am
unteren Rand der Einkommensverteilung. Dagegen bildet der Palma-Index, das
dritte statistische Maß, das WSI-Forscherin Spannagel berechnet hat, die
Entwicklung am oberen Rand stärker ab. Auch diese beiden Indizes
signalisieren von 2010 bis 2022, dass die Ungleichheit zugenommen und
einen neuen Spitzenwert erreicht hat (Abbildung 4). Dabei ist der Theil-
Index relativ stärker gestiegen als der Palma Index. Das deutet darauf
hin, dass das vor allem an einer schwächeren Entwicklung niedriger
Einkommen lag, die gegenüber den übrigen zurückgeblieben sind.
– Armut gewachsen, Reichtum relativ stabil, untere Mitte bröckelt –
Deutlich zugenommen hat seit 2010 auch die Einkommensarmut. Die Quote
armer Haushalte stieg bis 2022, ebenfalls mit einzelnen Schwankungen, von
14,4 auf 17,7 Prozent (Abbildung 5). Auch bei der Armutsentwicklung war
Fluchtmigration ein bedeutender Faktor, aber der Trend nach oben zeigt
sich auch hier unabhängig davon, betont Forscherin Spannagel. Relativ
noch stärker breitete sich „strenge“ Armut aus: 2010 waren 7,9 Prozent
aller Haushalte davon betroffen, 2022 bereits 11,8 Prozent.
Weniger hat sich hingegen beim Anteil der einkommensreichen Haushalte in
Deutschland verändert: Deren Quote stieg von 7,6 Prozent 2010
zwischenzeitlich leicht auf gut acht Prozent und sank dann, mit einigen
Schwankungen, auf 7,2 Prozent im Jahr 2022. Der Anteil der sehr
einkommensreichen Haushalte blieb stabil, er lag 2010 bei 1,9 und 2022 bei
2,0 Prozent.
Auch bei einem genaueren Blick auf die Mittelschicht zeigt sich „oben“
mehr Konstanz als „unten“: Ein Einkommen von 100 bis knapp unter 200
Prozent des Medians hatten über den gesamten Untersuchungszeitraum rund 42
Prozent der Haushalte. Dagegen wurde die „untere Mitte“ (über 60 bis unter
100 Prozent) etwas kleiner – der Anteil sank von 35,6 auf 32,3 Prozent.
„Damit legen die Daten nahe, dass sich die untere Mitte vor allem
verkleinert hat, weil Menschen in Armut abgerutscht sind, weniger, weil
sie in die obere Mitte aufgestiegen sind“, schreibt Verteilungsexpertin
Spannagel.
– Arme sind häufiger kritisch gegenüber Institutionen, gehen seltener zur
Wahl –
Eine schwierige finanzielle Situation geht häufig einher mit Frustrationen
und Verunsicherung. Das wiederum spiegelt sich auch in der Identifikation
mit staatlichen und demokratischen Institutionen, in der politischen
Beteiligung und bei Wahlentscheidungen wider. Bei allen drei Punkten, für
die die Erwerbspersonenbefragung Daten aus dem März 2025 liefert, zeigen
sich „deutliche Bruchlinien zwischen den Einkommensgruppen“, so die
Forscherin.
Ein klarer Zusammenhang zur wirtschaftlichen Situation zeigt sich etwa
beim Misstrauen gegenüber der Polizei, das zwischen knapp 24 Prozent unter
Menschen in Armut und knapp neun Prozent unter Menschen in
einkommensreichen Haushalten variiert – die übrigen Einkommensgruppen
liegen zwischen diesen Werten. Sogar knapp 32 Prozent der Armen setzen
kein oder nur geringes Vertrauen in Gerichte, unter den Reichen gilt das
für gut elf Prozent. Misstrauisch gegenüber den öffentlich-rechtlichen
Medien sind gut die Hälfte (51 Prozent) der Armen und gut 31 Prozent der
Reichen. Gegenüber der Bundesregierung äußerten im März 61 bzw. 32 Prozent
kein oder nur wenig Vertrauen.
Grundsätzlich ähnlich ist das Muster bei der Wahlbeteiligung: Sie sinkt
ebenfalls mit dem Einkommen. Allerdings hat sich die Lücke bei der
Bundestagswahl 2025 gegenüber dem Urnengang 2021 deutlich verkleinert.
Dabei kam die laut der Erwerbspersonenbefragung erheblich gestiegene
Beteiligung von ärmeren Menschen vor allem AfD und Linken zu Gute. Die
beiden Parteien werden generell von Wähler*innen mit niedrigen Einkommen
stärker gewählt als von Wähler*innen mit mehr Geld. Ein ähnliches Muster,
aber weit weniger deutlich ausgeprägt, lässt sich noch bei SPD und BSW
beobachten, während der Zusammenhang bei Union, Grünen und FDP in die
andere Richtung geht.
– Drei Schwerpunkte gegen die materielle und politische Spaltung –
Die Daten zeigten, dass bei beschleunigt wachsender Ungleichheit
„gesellschaftliche Spannungslinien stärker hervortreten“, warnt Spannagel.
Auch andere Studien machten deutlich, dass „objektive Benachteiligungen,
vor allem aber die Wahrnehmung `politischer Deprivation“, also das Gefühl,
von politischen Akteuren marginalisiert zu werden, systematisch mit
antidemokratischen Einstellungen und geringem politischen Vertrauen
zusammenhängen.“ Um wachsender Ungleichheit, Armut und politischer
Polarisierung gegenzusteuern, hebt die Wissenschaftlerin drei
Maßnahmenkomplexe hervor:
Stärkung guter Erwerbsarbeit: Eine gut bezahlte, sichere Integration in
den Arbeitsmarkt, wo gewünscht in Vollzeit, sei einer der Schlüssel, um
die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen zu sichern, betont die
Expertin. Die Rahmenbedingungen dafür gebe es längst:
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mit Tarifvertrag. Eine
passgenaue Qualifizierung und maßgeschneiderte Beratung von Menschen an
den prekären Rändern des Arbeitsmarktes wäre ein weiterer Baustein – und
würde dazu beitragen, in Zeiten des demografischen Wandels dringend
benötigte Arbeitskräftepotenziale zu heben. Das gelte auch für alle
Maßnahmen, die der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf dienen.
Denn sie erleichtern Alleinerziehenden den Zugang zu angemessener
Beschäftigung und ermöglichen Paarhausalten, vor allem mit Kindern, den
Arbeitsumfang auszuweiten – für zahlreiche Haushalte ein Weg aus der
Armut.
Stärkung der materiellen Teilhabe: Eine bessere Integration in den
Arbeitsmarkt und eine verlässliche soziale Sicherung seien keine
Gegensätze, sondern sie ergänzten einander, betont die
Verteilungsexpertin. Sowohl die Rentenzahlungen als auch die Leistungen
der (neuen) Grundsicherung müssten Menschen eine grundlegende
gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. In die falsche Richtung führten
vor diesem Hintergrund die geplanten Nullrunden bei den
Regelbedarfsleistungen und das Regierungsvorhaben, den
„Vermittlungsvorrang“ wieder einzuführen, also das Prinzip: Die schnelle
Vermittlung in womöglich nur kurzzeitige Erwerbstätigkeit hat Vorrang vor
der nachhaltigen Sicherung einer angemessenen Erwerbstätigkeit, etwa durch
Qualifizierung.
Stärkere Besteuerung höchster Einkommen und Vermögen: Eine Erhöhung der
Steuern für Top-Verdiener*innen, vor allem aber für Menschen mit
Topvermögen, ist nach Spannagels Analyse gleich aus zwei Gründen relevant:
zum einen als Einnahmequelle für die öffentliche Hand, zum anderen, um dem
Ungerechtigkeitsempfinden vieler Menschen entgegenzutreten. Zu den
sinnvollen Instrumenten zählt Spannagel, den Spitzensteuersatz anzuheben
und die derzeitige pauschale Abgeltungssteuer von 25 Prozent in die
progressive Einkommenssteuer einzugliedern. In Zeiten knapper Kassen
müssten Superreiche mehr zur Finanzierung des Gemeinwohls beitragen. „Dazu
gehört auch die angemessene Besteuerung sehr hoher Erbschaften – wobei
`Omas Häuschen´ selbstverständlich weiterhin steuerfrei zu übertragen sein
muss“, betont Spannagel – und die Wiederaufnahme der Vermögenssteuer.
