Denken kostet Energie
Wie stark beeinflusst unser Stoffwechsel das Denken? Dieser Überlegung ist
der Wissenschaftsphilosoph Dr. Philipp Haueis von der Universität
Bielefeld in einer aktuellen Veröffentlichung im Fachjournal „Behavioral
and Brain Sciences“ nachgegangen. Gemeinsam mit seinem Co-Autoren David J.
Colaço, PhD, von der Ludwig-Maximilians-Universität München beleuchtet
Haueis, wie der Stoffwechsel des Gehirns unsere kognitiven Fähigkeiten
beeinflusst, also Prozesse wie Gedächtnis, Wahrnehmung oder
Aufmerksamkeit.
„Wir wollten herausfinden, was passiert, wenn man die Energiefragen des
Gehirns ernst nimmt“, sagt Haueis. „Das Gehirn ist kein abstrakter
Computer, sondern ein Organ, das Energie braucht und Grenzen hat. Diese
Grenzen beeinflussen, wie wir denken, erinnern und Entscheidungen
treffen.“
Das menschliche Gehirn macht nur etwa zwei Prozent der Körpermasse aus,
verbraucht aber rund 20 Prozent der Energie. Trotz dieses hohen Verbrauchs
arbeitet es viel effizienter als moderne Computer. Dennoch berücksichtigen
viele wissenschaftliche Modelle, die erklären sollen, wie Wahrnehmung,
Gedächtnis oder Aufmerksamkeit funktionieren, diese energetischen
Bedingungen kaum. Genau hier setzt die Studie an.
Stoffwechsel als Schlüssel zu realistischen Denkmodellen
Die Forschenden zeigen, dass der Stoffwechsel, also alle chemischen
Prozesse, die Energie im Körper bereitstellen und verbrauchen, zwei
zentrale Rollen in der Erforschung des Denkens spielt. Erstens kann er
helfen zu prüfen, ob bestehende kognitive Modelle (also theoretische
Beschreibungen geistiger Prozesse) überhaupt biologisch plausibel sind.
Denn jedes Modell, das mehr Energie voraussetzt, als das Gehirn
bereitstellen kann, ist unrealistisch. Zweitens kann Wissen über den
Metabolismus genutzt werden, um neue Modelle zu entwickeln. Diese eröffnen
Einblicke in bislang unbeachtete Zusammenhänge zwischen Gehirnstruktur und
Informationsverarbeitung. Etwa, wie neuronale Netzwerke Energie nutzen, um
effizient zu lernen.
Ein Aufruf zum interdisziplinären Denken
Die Veröffentlichung ist die erste, die systematisch zusammenfasst, wie
Erkenntnisse über den Stoffwechsel für die Modellierung geistiger Prozesse
genutzt werden können und warum das philosophisch notwendig ist. Durch das
sogenannte „Open Peer Commentary“-Format des Journals, bei dem Forschende
aus verschiedenen Disziplinen öffentlich Stellung nehmen, soll nun eine
breite Debatte entstehen.
Diese Debatte betrifft nicht nur Fachkreise. Die Studie hat weitreichende
Folgen für das Verständnis von geistiger Anstrengung, von Berechnung im
Gehirn (in der Philosophie „computation“ genannt) und für die Frage, wie
künstliche Intelligenz im Vergleich zu biologischer Intelligenz
funktioniert.
„Wenn wir verstehen, dass Denken Energie kostet, verstehen wir auch
besser, warum Aufmerksamkeit begrenzt ist und warum maschinelles Lernen
ohne biologische Beschränkungen andere Wege geht“, sagt Haueis. Damit
liefert die Arbeit nicht nur einen Beitrag zur Grundlagenforschung,
sondern auch Impulse für aktuelle gesellschaftliche Diskussionen über KI,
Energieeffizienz und das Wesen von Intelligenz selbst.
Die Studie entstand im Rahmen des Institute for Studies of Science (ISoS)
an der Universität Bielefeld, das im Mai 2025 den Status einer zentralen
wissenschaftlichen Einrichtung erhalten hat. Das ISoS bündelt die
interdisziplinäre Erforschung von Wissenschaft, Medizin und Technik und
untersucht, wie wissenschaftliche Praktiken in gesellschaftliche
Zusammenhänge eingebettet sind.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Philipp Haueis, Universität Bielefeld
Abteilung Philosophie
Telefon 0521 106-4585
E-Mail: philipp.haueis@uni-bielefeld.d
Originalpublikation:
Originalpublikation (Preprint): Philipp Haueis und David J. Colaço, PhD:
Metabolic considerations for cognitive modeling. Behavioral and Brain
Sciences. DOI: https://doi.org/10.1017/S01405
18.11.2025.
