Debatte um die Definition von hochprozessierten Lebensmitteln verstellt den Blick auf das Wesentliche
Derzeit wird eine Debatte darüber geführt, wie verlässlich aktuelle
Studien zu den gesundheitlichen Risiken hochprozessierter Lebensmittel
sind. Während zahlreiche Studien auf mögliche negative Effekte hinweisen,
verweisen Kritiker auf methodische Schwächen bzw. unklare Definitionen und
relativieren die Ergebnisse. Dabei gerät jedoch ein zentraler Punkt in den
Hintergrund: Ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland ernährt sich
unausgewogen, oft schon im Kindesalter, und geht damit gesundheitliche
Risiken ein. Anstatt sich in Definitionsfragen zu verlieren, sollte der
Fokus auf dem deutlich dringlicheren Problem liegen: der weit verbreiteten
ungesunden Ernährung in der Bevölkerung.
Derzeit wird in Deutschland intensiv über die richtige Definition von
„hochverarbeiteten Lebensmitteln“ (UPF) diskutiert. Grund dafür sind u. a.
aktuelle Lancet-Studien [1], die zeigen: Ein hoher Konsum dieser Produkte
steht im Zusammenhang mit einer Vielzahl von Krankheiten – von Adipositas
und Diabetes mellitus über Herz-Kreislauf-Leiden bis hin zu neurologischen
Erkrankungen wie Schlaganfall oder Parkinson. Kritiker weisen darauf hin,
dass viele dieser Studien auf der NOVA-Klassifikation basieren, einer
Einteilung, die wissenschaftlich durchaus umstritten ist, und hinterfragen
die Ergebnisse. Dieser Diskurs wurde von den Medien aufgegriffen und breit
ausgerollt. Nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN)
geht diese Diskussion aber am Punkt vorbei.
„Tatsächlich macht der Grad der Verarbeitung allein ein Lebensmittel nicht
automatisch ungesund. Eine Präzisierung der Kategorien und bessere
wissenschaftliche Grundlagen sind notwendig, das steht außer Frage“, räumt
DGN-Präsidentin Prof. Dr. Daniela Berg ein. „Dennoch lenkt die derzeitige
Diskussion vom eigentlichen Thema ab, nämlich dass Deutschland ein
massives Problem mit unausgewogener Ernährung und einer allgegenwärtigen
Überversorgung durch hochkalorische, zucker-, fett- und salzreiche
Produkte hat. Wir sollten diskutieren, wie wir unsere Mitbürgerinnen und
Mitbürger, insbesondere auch Kinder und Jugendliche, zu einer gesunden
Ernährungsweise motivieren und ihnen den diätetischen Wert von frisch
zubereiteter Nahrung nahebringen.“
Prof. Berg und ihre Kollegin Dr. Eva Schäffer, beide vom UKSH Kiel,
kritisieren eine falsche „Incentive-Setzung“ durch Gesellschaft und
Politik. „Ein zentrales Problem besteht darin, dass ungesunde
hochverarbeitete Produkte nahezu überall leichter zu bekommen sind und
häufig günstiger angeboten werden als gesunde Lebensmittel, die reich an
Pflanzenstoffen und Ballaststoffen sind“, erläutert Dr. Schäffer. Darüber
hinaus würden diese Produkte massiv beworben, insbesondere gegenüber
Kindern und Jugendlichen – zunehmend auch über soziale Medien und unter
Einsatz marketingstrategischer Konzepte, die aus ethischer und
gesundheitlicher Sicht sehr kritisch zu bewerten sind.
Die Folgen sind überall sichtbar: Die Prävalenz von Adipositas steigt, und
zwar schon im Kindesalter, es gibt mehr Diabetes mellitus, mehr
Bluthochdruck. Diese Entwicklungen erhöhen langfristig das Risiko für
weitere schwere Erkrankungen – in der Neurologie vor allem Schlaganfall
und neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson mit stetig
steigenden Fallzahlen. Die daraus entstehende Krankheitslast wird das
Gesundheitssystem in den kommenden Jahrzehnten erheblich belasten.
„Diese Probleme sind bekannt – und seit Jahren ungelöst. Statt offen
darüber zu sprechen und nach Lösungen zu suchen, wird gerade eine
Nebenschauplatz-Debatte eröffnet, bei der definitorische Streitpunkte im
Vordergrund stehen – und bei vielen Menschen am Ende möglicherweise im
Gedächtnis haften bleibt, dass hochverarbeitet Lebensmittel gar nicht so
schlimm seien“, kritisiert Berg.
Doch egal, wie man wissenschaftliche Definitionen im Detail fasse, eines
ließe sich nicht wegdiskutieren: Hochkalorische Snacks liefern viel
Energie, aber kaum Sättigung. Frische, ballaststoffreiche Lebensmittel
sättigen dagegen nachhaltiger. „Diese physiologischen Grundlagen sind seit
Langem belegt – trotzdem prägen sie die derzeitige gesellschaftspolitische
Debatte kaum.“
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie sieht daher folgende Maßnahmen im
Fokus, um Menschen – insbesondere Kinder – vor Über- und Fehlernährung zu
schützen:
- weniger an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Produkte,
- bessere und gesündere Schulverpflegung,
- klare und einfach verständliche Kennzeichnungen für Lebensmittel,
- Preise, die gesunde Entscheidungen erleichtern,
- und Vermittlung von Wissen und Sicherheit im Umgang mit Lebensmitteln,
und zwar so früh wie möglich.
Auch die schädlichen Effekte von Nikotin und übermäßigem Alkoholkonsum
müssen frühzeitig thematisiert werden. „Bereits im Jugendalter sind
regelmäßige körperliche Bewegung und geistige Herausforderungen –
beispielsweise das Erlernen von Fremdsprachen oder eines Musikinstrumentes
– entscheidend für die Hirngesundheit“, ergänzt Prof. Dr. Peter Berlit,
Pressesprecher der DGN.
„Ob wir ein Produkt „ultra-processed“ nennen oder nicht, ist zweitrangig.
Was wir zur Zeit erleben, ist eine ‚Kunst-Debatte‘, die nur der
Lebensmittelindustrie und ihrer Lobby hilft. Entscheidend ist hingegen,
dass die gesündere Wahl endlich zur einfacheren Wahl wird“, erklärt die
DGN-Präsidentin Berg abschließend.
[1] Artikelserie in „The Lancet“ zu hochprozessierten Lebensmitteln,
online abrufbar unter https://www.thelancet.com/seri
food
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Pressesprecher: Prof. Dr. Peter Berlit
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Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
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gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 13.500 Mitgliedern die
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Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der
gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden
gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org
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